„Test Pleasures“ vs. „Testosteron“

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von Test Test Test

Ian Curtis, Bernard Sumner, Peter Hook und Stephen Morris aus Manchester prägten die bis heute nachhallende Post-Punk-Bewegung wohl nachhaltiger als jede andere Band – und das mit nur zwei Studioalben. Die beim legendären Label Factory Records veröffentlichten Werke „Unknown Pleasures“ und „Closer“ gelten als Hauptwerke des Genres.

Gerade mal 13 Monate trennen die Veröffentlichungstermine beider Platten. Es sollten die zwei größten Relikte einer rasanten Karriere werden, die mit dem Freitod von Sänger Ian Curtis bereits 1980 ein jähes Ende nahm. Doch welches Werk aus dem Nachlass – rein musikalisch betrachtet – weiter herausragt, darüber herrscht unter Fans und Kritikern Uneinigkeit. Klar ist indes, dass „Unknown Pleasures“ in der vierten Dekade nach seiner Veröffentlichung hartnäckiger durch die Popkultur geistert. Das hängt zum einen damit zusammen, dass „Disorder“, „Shadowplay“ oder „She’s Lost Control“ dank Peter Hooks eingängigen Bassläufen zu häufig gespielten Hits avancierten.

Noch präsenter als die Musik zeigt sich heutzutage allerdings das Schwarz-Weiß-Artwork von Peter Saville, der die Factory-Diskographie als Hausdesigner maßgeblich mitprägte. „Direkt nach der Punk-Periode gab es überall neue Designs und kräftige Grundfarben.“ Und so kam es, dass Peter Savilles düsteres Bild von den Radiowellen eines erlöschenden Sterns zum „Beginn einer minimalistischen Design-Revolution“ wurde. Bis heute erreicht das Cover eine Reichweite als T-Shirt-Motiv, die sich problemlos mit den von H&M verkauften Ramones- oder Run DMC-Logos vergleichen lässt.

Hendrik Otremba, Sänger der Münsteraner Band Messer, schreibt 2011 für das Webzine „Beatpunk“, gerade in Punk- und Hardcore-Kreisen bilde die Präsenz von Joy Division eine langjährige Konstante – „als Mittel, sich ein bestimmtes Image zuzulegen, das des Misanthropen etwa“. Allerdings würden die schwarzen Shirts mit dem weißen Diagramm auch bei jüngeren Szenegängern immer populärer: „Auch in den Clubs tanzt es sich immer häufiger im ‚Unknown Pleasures‘-Shirt.“ Otremba weist zudem darauf hin, wie sehr die Grafik mittlerweile auch abseits der Subkultur adaptiert wird, führt Carhartt und o2 als Beispiele auf, und prophezeit: „Der Schritt vom Underground-Code zur H&M-Stange ist nicht mehr weit.

Dass dem Artwork der Nachfolgerplatte ein solches Schicksal erspart bleiben würde, ließ sich bereits seiner Zeit erahnen. Für das Cover von „Closer“ zeichnete neben Martyn Atkins wiederum Peter Saville verantwortlich, der diesmal eine Fotografie des Franzosen Bernard Pierre Wolff in den Mittelpunkt rückte: ein Bild einer Grabstätte in Genua, auf schneeweißem Grund, quadratisch und fein eingerahmt. Als sich Ian Curtis zwei Monate vor Veröffentlichung das Leben nahm, habe man durchaus erwogen, das morbide Cover zu verwerfen, erzählt Saville 2011 im Interview mit der britischen Tageszeitung „The Guardian“. „Allerdings hatte sich die Band, inklusive Ian, das Foto ausgesucht„.

Wie sehr die beiden Cover voneinander abweichen, unterstreicht den erstaunlich radikalen Wandel der direkten Nachfolgerplatte nur zu gut. „Nachdem Joy Division auf ‚Unknown Pleasures‘ vollkommen besessen und sorgfältigst fokussiert zehn Songs wie aus einem Guss eingespielt hatten, war ‚Closer‘ die chaotische Explosion, die sich in alle Richtungen auf einmal ausbreitete„, schreibt Ned Raggett in seiner Rezension für „All Music“. Somit ist es heutzutage kein Wunder, dass sich die „Unknown Pleasures“-Einflüsse auch dann sichtbarer herauskristallisieren, wenn man die Spielweisen von Bands wie The National, Interpol oder Editors betrachtet, die sich allesamt auf Joy Division beziehen. Für die  Kombination aus schwermütigem Baritongesang, scheppernder Gitarre, geachtelten Bassläufen und verkrampften Schlagzeug gelang Joy Division mit ihrem Debütalbum der eindeutige Leitfaden.

Großen Anteil an diesem Kunststück misst man bis heute dem Produzenten Martin Hannett bei. So schrieb etwa das englische Magazin „Pitchfork“ in seiner Huldigung von 2007: „Joy Division waren wie viele ihrer Kollegen aus Manchester vom DIY-Anti-Ethos der Sex Pistols inspiriert; sie wussten zu Beginn nur nicht, was sie damit anfangen sollen.“ Dass Hannett die Raumtemperatur im Studio so weit sinken ließ, dass die Bandmitglieder ihren eigenen Atem sehen konnte, mutet aus heutiger Sicht zwar wie eine nette Anekdote an, dürfte die beklemmende Stimmung vieler Stücke aber durchaus noch weiter getrieben haben.

Als sich die Band neun Monate nach Veröffentlichung von „Unknown Pleasures“ – erneut unter der Regie von Hannett – ins Studio begab, legte sie eine gewachsene instrumentale Fertigkeit und damit verbunden auch ein deutlich vielfältigeres Rhythmus-Repertoire an den Tag. Gleich das sechsminütige Eröffnungsstück „Atrocity Exhibition“ erinnert mit Stephen Morris‘ gebremstem Getrommel mehr an Krautrock denn an Post-Punk, zusätzlich tauschten Bassist Peter Hook und Gitarrist Bernard Sumner die Instrumente: „Barney und ich waren einfach gelangweilt davon, die Songs auf unseren eigenen Instrumenten zu schreiben„, schreibt Hook in seiner 2013 veröffentlichten Biografie „Unknown Pleasures: Inside Joy Division“.

Die neugewonnene Experimentierfreude schlug sich auch in „Heart and Soul“ nieder, in dem man Peter Hooks Bassline erstmals auf einen Synthesizer übersetzte. Oder in der Klavierballade „The Eternal“, in der Hook nicht zu Unrecht eine neue Qualität des Zusammenspiels erkennt. Das finale „Decades“ wirkt schließlich wie ein Vorbote für etwas, mit dem die verbleibenden Bandmitglieder die Popmusik nach Ian Curtis‘ Tod als New Order erneut prägen sollten: Synthie-Pop.

Es passt auch ins Bild, dass der Bassist eigenen Angaben zufolge erst auf dem Weg zu „Closer“ Notiz von Curtis‘ Texten nahm. In den zwei Jahren zuvor sei alles, was er im Proberaum habe hören können, ein Schreien gewesen. „Ich dachte mir nur: Dieser Kerl meint es ernst.“ Es sei dann recht erschreckend gewesen, wie sich die Zeilen verändert hätten, „zwischen der ersten Platte, auf der sie noch unverbindlich und aggressiv waren, und dem noch düstereren ‚Closer‘, das ganz und gar nicht unverbindlich, sondern sehr introspektiv und beängstigend wirkte.

Nicht wenige sehen gerade darin die Stärke der vermeintlich weniger legendären zweiten Platte. So steht etwa für „Pitchfork“-Autor Joshua Klein fest: „‚Closer‘ ist noch karger, klaustrophobischer, einfallsreicher, schöner und eindringlicher geraten als sein Vorgänger.“ Letztlich lässt sich auch ganz objektiv betrachtet festhalten, dass es sich bei Joy Division – so beispiellos ihre Karriere auch verlaufen sollte – ganz ähnlich verhielt, wie bei so vielen anderen prägenden Bands: Was die erste Platte an revolutionärer Neuartigkeit mit sich bringt, kompensiert die zweite mit Innovation, Konzept und Reife.

The past is now part of my future. The present is well out of hand.

– Ian Curtis in „Heart & Soul“, 1980.

 

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